Das Festival Kunstfest Weimar 2023

Erinnern schafft Zukunft

»Erinnern schafft Zukunft« lautet die diesjährige Losung des Kunstfest Weimar und das Programm bietet dazu zahlreiche Bezüge. Zum Auftakt des größten ostdeutschen Festivals für die zeitgenössischen Künste wird die US-amerikanische Regielegende Robert Wilson die deutsche Erstaufführung seiner Version von Alfred Jarrys Antikriegsfarce »UBU« präsentieren. Die Inszenierung verwendet Originalfiguren des spanisch- katalanischen Surrealisten Joan Miró, der sich Zeit seines Lebens nicht nur Jarrys Werk, sondern auch der Bauhaus-Schule verbunden sah. Auch Wilson hat sich immer wieder – etwa 2003 als Gastprofessor der Bauhaus-Universität Weimar – mit der Bewegung auseinandergesetzt. So kommt der Zeitpunkt dieser Koproduktionspremiere gerade recht, denn Mitte August vor genau 100 Jahren eröffnete die Bauhaus-Ausstellung vor dem Umzug der Schule nach Dessau.

Die Gründung des Bauhaus 1919 in Weimar verband sich mit der Utopie eines neuen Menschen und einer umfassend veränderten Gesellschaft, die die tiefe Erschütterung vermeintlich zivilisatorischer Grundgewissheiten durch den Ersten Weltkrieg ernstnahm. Diese Hoffnung ist seitdem vielfach durch Krieg und Völkermord enttäuscht worden und gegenwärtig sind wir Zeugen des imperialen russischen Zerstörungskrieges gegen die Ukraine, der Erinnerungen an den Ersten und den Zweiten Weltkriegt weckt.

Der Komponist und Regisseur Marc Sinan begreift in seinem Projekt »KRIEGSWEIHE«, einem mehrteiligen Stadtraumkonzert, Musik als eine Form der Aufarbeitung von Traumata und der Überwindung von Konflikten. »KRIEGSWEIHE« versteht sich als interdisziplinäres Projekt, das in Reminiszenz an die Große Bauhausausstellung Weimar an verschiedenen Orten mit den verschiedenen Künsten bespielt, um die Kunst als eine friedensstiftende Kraft zu feiern.

Eine solche Wirkung kann auch die Verständigung durch Sprache entfalten. Als Weg, die unsagbaren Er- fahrungen des syrischen Bürgerkriegs zu sublimieren, benutzt die junge exilsyrische Dramatikerin Wihad Suleiman für ihr Schauspiel »Existenz« eine sehr kunst- volle Sprache. Den Text bringt das Kunstfest in Koproduktion mit dem großen Napoli Teatro Festival Italia zur Erstaufführung. Demgegenüber greifen Amir Reza Koohestani und Mahin Sadri für ihre Büchner-Paraphrase »Dantons Tod Reloaded« in Koproduktion mit dem Hamburger Thalia-Theater auf die Zeitfolie der französischen Revolution zurück, um über die scheiternde Revolution der Frauen im Iran zu reflektieren. Der Weg von Robespierres Tugendwächtern zur iranischen Sittenpolizei ist dabei ein überraschend kurzer, womit es der Parabel gelingt, die historische Dimension zu verdeutlichen. In entsprechender Weise reicht Thomas Köcks Libretto für Johannes Maria Stauds Opernuraufführung »Missing in cantu« bis in die Zeit der südamerikanischen Konquistadoren zurück, um das globale, kapitalistische System am Ende einer jahr- hundertelangen, systematischen Zerstörung seiner eigenen Lebensgrundlagen zu beschreiben.

So vermag Erinnerung die Gegenwart zu erhellen, auch wenn sie die Zukunft vielleicht manches Mal eher in Frage zu stellen, als sie zu ermöglichen scheint. Doch dagegen setzt das Kunstfest bewusst auf die Kraft der Kunst. Diese realisiert sich für den Betrachtenden im Erlebnis, im Angesicht des Kunstwerks - das Moment der unmittelbaren und lebendigen Rezeption kann letztlich durch kein noch so raffiniertes, virtuelles Projekt ersetzt werden. Daran knüpft das Autor:innen- Leseprojekt »Wir sind Möglichkeiten« an, bei dem zwölf Positionen unterschiedlichster Provenienz zum Thema Anderssein und Ausgrenzung auf der Weimarer Agora, dem Theaterplatz, zu hören sein werden.

Das unmittelbare Erlebnis ist dabei auch das wirksamste Mittel, inhaltsleeren Erinnerungsroutinen ent- gegenzuwirken. Dieser Gedanke spiegelt sich zumal im Eröffnungsprojekt des Festivals auf dem Theaterplatz wider, das eine Anknüpfung an das europäische Kulturhauptstadtjahr 1999 bietet: Günther Uecker, damals wie heute einer der bedeutendsten deutschen Maler und Objektkünstler, hatte zu diesem Festjahr in einem Kellerraum der sogenannten Häftlingskantine des Konzentrationslagers Buchenwald ein »STEINMAL« errichtet. 24 Jahre danach wird die damalige Installation – unter Teilnahme der Weimarer Bevölkerung bei der Errichtung – auf dem Weimarer Theaterplatz von Günther Uecker zu neuem Leben erweckt. Wendete sie sich 1999 gegen einen einseitigen, vergesslichen Blick auf Weimar und Deutschland, so wendet sie sich heute auch gegen unverbindliches, stereotypes Erinnern und gegen die unübersehbare Revitalisierung rechtsradikal-rassistischer Einstellungen und Gewalt in der Gesellschaft.

Das traditionelle Schlüsselmoment der Erinnerung im Kontext des Kunstfests ist das »GEDÄCHTNIS-BUCHENWALD-KONZERT«, das in diesem Jahr zwei Werke von Komponisten präsentiert, die die Bedrohung durch den Tod in Vernichtungslagern erlebten. Im dritten Teil aber kommt Arthur Honeggers schroff-spektakuläre »Symphonie liturgique« als emotionale Reaktion des Komponisten auf die erlebten Schrecken nach Ende des Zweiten Weltkriegs zur Aufführung. „Grundlagen meiner künstlerischen Erziehung erwarb ich in KZs wie Buchenwald“, schrieb der Holocaust-Überlebende No!art-Begründer Boris Lurie, der Bilder von Leichenbergen mit Pin-ups collagierte. Das Kunstfest würdigt diesen großen Nonkonformisten mit der Performance »LURIE'S LYRICS« von Julia Wahren und Rudolf Herz und einem Diskursnachmittag im Rahmen der von Volkhard Knigge kuratierten Reihe. Dabei geht es eben um die Frage, welche Folgen Brucherfahrungen für bildende Kunst und Literatur heute haben, wie bildende Kunst und Literatur einer heute aufflackernden Gewalt entgegentreten - gerade vor dem Hintergrund einer Erinnerung, die Zukunft möglich machen soll.

Rolf C. Hemke / Frauke Kämmerling